Schönheit in den Augen eines chinesischen Mädchens

Yushuqi kam (nach einem Jahr Deutschunterricht) im August 2015 nach Deutschland und besucht ein deutsches Internat. Auch nun in der 11. Klasse zählt sie zu den besten Schülern ihres Jahrgangs. Anbei ihr selbst entwickelt und geschriebener philosophischer Dialog:

Sokrates Gespräch: Timotheos von Yushuqi Wen

Thema: Schön

Sokrates: Wohin so eilig, Timotheos?

Timotheos: Zum Arzt.

Sokrates: Wieso zum Arzt, siehst doch kerngesund aus?

Timotheos: Ich gehe zum Schönheitschirurg. Man findet, dass ich unglaublich hässlich bin. Eine Schönheitsoperation muss ich unbedingt machen, sonst verlässt mich meine Frau.

Sokrates: Warum findet man dich denn hässlich?

Timotheos: Mein Aussehen ist nicht schön. Mein Gesicht sieht komisch aus und ich bin sehr traurig dass die Anderen sagen, dass ich nicht schön bin.

Sokrates: Also die Anderen finden dich nicht schön, aber bestimmen sie, was schön ist?

Timotheos: Nein, natürlich nicht.

Sokrates: Also bestimmst du was schön ist?

Timotheos: Nein, ich natürlich auch nicht.

Sokrates: Denk noch mal darüber nach, nur als Beispiel, was du schön findest.

Timotheos: Schön ist ein Haus in Santorini.

Sokrates: Aha, dies findest du schön, aber wie und warum?

Timotheos: Ich finde einfach so, dass Häuser mit weißem Anstrich, kleinen Fenstern und blauem Dach schön sind.

Sokrates: Oh, aber für mich ist so ein Haus nicht so schön. Kleine Häuser mit großen Fenstern, Spitzdach und Boden aus Marmor in Athen finde ich schöner. Es scheint so, als hätten wir ganz verschiedene Meinungen nach Schön. Bedeutet das, dass keiner von uns Schön versteht?

Timotheos: Naja, das ist ziemlich normal. Die Sachen, die ich schön finde, findet nicht jeder schön. Wenn jeder die Häuser in Santorini schön findet, erscheinen dann überall auf der Welt ähnliche Häuser. Aber das ist nicht passiert, weil verschiedene Leute unterschiedliche Sinne für das Schöne haben.

Sokrates: Das ist eine überzeugende Antwort. Heißt es denn, dass jeder eine verschiedene Ansicht auf etwas Schönes hat?

Timotheos: Ja so könnte es sein.

Sokrates: Also sagen wir es vielleicht so, dass Schön im Auge des Betrachters liegt.

Timotheos: Oh ja, so scheint es.

Sokrates: Aber was heißt das Auge des Betrachters? Nehmen wir ein Beispiel: Wenn wir über das Schöne an einer unbekannten Frau und deiner Frau diskutieren, wirst du die gleichen Meinung haben?

Timotheos: Nicht unbedingt, meine Frau ist für mich auf jeden Fall am schönsten.

Sokrates: Sollen wir nun in diesem Falle sagen, für dich ist deine Frau schöner, weil sie deine Liebe ist und mit dir viele schöne Sachen zusammen erlebt hat?

Timotheos: Jawohl. So ist es.

Sokrates: Heißt das, für die Anderen ist deine Frau vielleicht nicht so schön aber wegen deiner Emotion und subjektiven Meinung findest du deine Frau schön? Schön kann dann auch von subjektiven und objektiven Aspekten entschieden werden.

Timotheos: So ist das.

Sokrates: Lass uns weitermachen. Zum Beispiel gibt es jetzt zwei Leute: Einer hat ein hübsches Gesicht und eine gute Figur, der andere sieht gar nicht gut aus aber ist sehr gutmütig und nett. Aber beide bekommen Kommentare, dass sie schön sind. Was bedeutet das denn?

Timotheos: Naja das Schöne an ihnen ist in verschiedenen Arten.

Sokrates: Meinst du denn dass es unterschiedliche Formen von Schönheit gibt? Also zählt nicht nur das Aussehen sondern auch die inneren Werte?

Timotheos: Genau, das meinte ich.

Sokrates: Oder sagen wir es so: Schön kann das Aussehen und die inneren Werte symbolisieren, die sind gleichwertig.

Timotheos: Ja da hast du Recht. Es scheint mir so, dass ich vielleicht zu sensibel über mein Aussehen urteile. Die inneren Werte vom Schönen sind auch wichtig.

Sokrates: Nach meiner Meinung bist du ganz gutmütig, großartig und hilfsbereit. Du hast sehr schöne innere Werte.

Timotheos: Es stellt sich nun für mich heraus, dass Schön doch sehr vielfältig ist. Aber ich weiß nicht genau, was Schön bedeutet.

Sokrates: Ja du hast Recht Timotheos. Schön ist vielleicht nur ein gegenwärtiger Zustand oder eine Reflexion eines Menschen auf eine Sache. Aber Schön kann auch tausend andere Formen haben.

Timotheos:Wird man diese weiteren Fassetten jemals herausfinden?

Sokrates: Wer weiß? Alles hat sicherlich unendlich viele Fassetten. Man wird wahrscheinlich nie alles herausfinden.

Timotheos: Sokrates du weiser Mann ich danke dir. Du hast mir die Augen geöffnet und gezeigt, dass man Dinge nicht so hinnehmen sollte, wie sie sein scheinen.

Sokrates: Nein Timotheos du allein hast dies herausgefunden. Ich habe dir lediglich dabei geholfen.

Timotheos: Dies denke ich auch. Nun ich denke von mir irgendwie bin ich ja auch schön, nicht wahr?

Sokrates: Ja so scheint es.

Timotheos: Ich glaube die Operation brauche ich nicht mehr. Denn für jeden ist Schön etwas anderes.

Sokrates: In diesem stimme ich dir zu, Timotheos. Dies war ein sehr nettes Gespräch mit dir.

Timotheos: Auf Wiedersehen Sokrates. Hoffentlich sehen wir uns wieder wir sollten dies wiederholen und unser Thema fortführen. Aber nicht jetzt, denn ich muss die Operation absagen und nach Hause gehen.

Sokrates: Ja Timotheos wir werden uns bald wiedersehen.

Torgelow, 2.02.2016

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